Unsere heutige Welt ist voller Gegensätze: Privatheit und Öffentlichkeit verschwimmen immer mehr, jeder Mensch beobachtet und wird zugleich selbst beobachtet. Wo die Grenze zwischen Intimität und der Außenwelt liegt, ist einer der großen Themenkreise in der Arbeit von Evelyn Kreinecker, die sich dabei fast ausschließlich mit Menschen beschäftigt. Ob als Individuum oder Teil einer Masse, die Künstlerin versucht jeder Figur Persönlichkeit und „Schicksal“ einzuhauchen.
Vielschichtigkeit zeichnet ihre Arbeit aus, nicht nur bei der Motivsuche, auch die Maltechnik
Kreineckers ist komplex und aufwändig:
Zuerst wird Farbe in expressivgestischer Manier aufgetragen, diese Schüttung dient als Basis der Bilder
und bleibt im Hintergrund sichtbar. Als zweiter Schritt werden die Muster transparenter Stoffe mittels einer Schablone mit der Farbe verwoben und darauf eine Kohlezeichnung gesetzt.
Vollendet wird in Ölmalerei, um der Darstellung Plastizität und Fülle zu geben – die farbliche Basis spiegelt sich bei dieser Schlusskomposition wider.
Zentrales Motiv ist das menschliche Wesen, ob als Teil einer Masse, flanierender Tourist in einer Großstadt oder fokussierter Gesichtszug und Mimik der Person, gleichsam mit Kohlestift und Pinsel herangezoomt. Die Szenen wirken lebendig und im Moment festgehalten, als Grundlage dienen
Fotos aus verschiedenen Quellen.
Prozess der Bewegung: „Betrachtungen“ und „Mengenlehre“ waren passende Titel der Bilderzyklen, die Kreinecker in den vergangenen Jahren schuf, „Wegstücke“ heißt ein neuer Ansatz und beschäftigt sich mit den aktuellen Wanderbewegungen auf unserem Planeten.
„Man kann nicht an der Zeit vorbei, meine neuen Bilder sind persönliche Fragestellungen, wohin der Weg führt und was Exodus und Migration aus den Menschen macht – aus Ankommenden und Alteingesessenen“, entwirft die Künstlerin ihre Schaffensidee.
Neben großformatigen Bildern hat sie zusätzlich einen Animationsfilm „gedreht“. Gezeichnet mit Kohle auf demselben Stück Leinwand wachsen Szenen, die sich immer wieder verändern, überlagern und wieder verschwinden. Der Zeichenprozess wurde fotografiert und mittels Stop-Motion-Technik zu einem Film zusammengefügt. So entstand eine dichte Dynamik, die Bildfolge zeigt in alle Richtungen gehende Menschengruppen mit ganz unterschiedlichen Motiven. Flucht, Pilgerreise, Wanderung, ein Prozess der Bewegung, von dem im letzten Bild nur ein Schatten übrigbleibt – hauchfeine Spuren von Individuen, die zusammen ein Ganzes bilden… die Menschheit selbst.