Friedrich Wilhelm Nietzsche:
„Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.“

Immerse – Eintauchen. Wasser ist die einzige chemische Verbindung auf der Erde, die in der Natur in allen drei Aggregatzuständen vorkommt: fest, flüssig und gasförmig.
Wasser als Symbol der Transformation, als Metapher für das Leben; und – seit jeher – Thema der bildenden Kunst. Waren im 19. Jahrhundert – dem Historismus folgend – das Meer, die See in den Darstellungen mitunter Staffage für dramatische Motive wie:
Seeschlachten, Schiffsbrüche, Untergangsszenarien, ja Apokalypsen, so sind die Darstellungen der sogenannten „leeren See“ als Symbol für die Unendlichkeit, für die unermessliche irdische Kraft der Natur und zugleich für die Ausgewogenheit, Klarheit und Ruhe zu deuten – Wasser als ambivalentes Seestück.

Ludwig Wittgenstein:
„Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit:“ 2

Der um 1830 entstandene Farbholzschnitt von Hokusai „Die große Welle vor Kanagawades“, das weltweit bekannteste japanische Kunstwerk, zeigt uns eine mächtige Woge vor Yokohama, beinahe den Fuji verschlingend.
1872 malte Claude Monet ein Seestück des Hafens von Le Havre mit dem Titel „Impression“, das dem Kunststil des Impressionismus seinen Namen gab. Während seiner letzten dreißig Schaffensjahre malte Monet seine berühmten Seerosenbilder aus dem Garten von Giverny – horizontlose Wasserlandschaften.
In der Kunst generiert Wasser per se häufig Drama, ob als archetypisch überschießende Energie oder poetisch spiegelnde Tiefe. Von den Seestücken der maritimen niederländischen Malerei bis zu den Seestücken von Gerhard Richter reicht die Bandbreite des Wassers als Sujet. Es sind die mannigfaltigen meteorologischen, nautischen, stofflichen, erotischen, poetischen Bezüge zum Wasser, die bildende Künstler zu besonderen Werken angeregten.

Jean-Francois Lyotard:
„Die eigentliche Aufgabe der Kunst ist es, das Unbegreifliche fühlbar zu machen.“ 3

Im Jahre 2008 beispielsweise, als Olafur Eliasson in New York Wassermassen über künstliche, riesige Wasserfälle aus 40m Höhe in den East River stürzen ließ, 2016, als Christo am Iseosee an 16 Tagen auf seinem schwimmenden Kunstwerk „Floating Piers“ 1,3 Mio. BesucherInnen zum Staunen brachte, oder 2017, als bei Skulptur Projekte Münster Ayşe Erkmen die Ausstellungsbesucher im Hafenbecken buchstäblich über Wasser gehen ließ.
Damit sind nur einige Eckpunkte der Magie des Wassers angedeutet, die auch Evelyn Kreinecker in ihrer jüngsten Werkserie, die wie der Titel dieser Ausstellung hier im MUFUKU „Immerse“ – Eintauchen – von ihr benannt wurde, nicht mehr los ließ.
Evelyn Kreinecker setzt sich intensiv mit dem Sujet Wasser auseinander, ergründet grafisch wie malerisch die Oberfläche, einmal aufschäumend – einmal reflektierend. Sie ergründet, was sich unter der Oberfläche – in der Tiefe des Wassers – befindet und nur zum Teil sichtbar ist.

Evelyn Kreinecker:
„Wir sind mit dem Wasser verwoben, von Anfang an. Wasser – Sehnsuchtselement – Lebensquell und Bedrohung – Projektionen – Urelement – Kraft und Ruhe.“

Das Sujet Wasser spiegelt sich auch im Aufbau der Gemälde von Evelyn Kreinecker wider. Auf die Leinwand wird zuerst Acrylfarbe eines ausgewählten spezifischen Farbspektrums mit expressivem gestischen Pinselduktus aufgetragen, den die Künstlerin mit dem Eintauchen ins Wasser vergleicht. Diese erste Ebene mit Nahbezug zur informellen Malerei steht symbolisch für den Grund – ist Grundierung, Grundfarbigkeit im weitesten Sinne.
Es folgt die zweite Ebene mit ornamentalen Strukturen. Die in Schablonentechnik mit Lack aufgebrachte Schicht ist Bindeglied zwischen dem Ungegenständlichen und dem Gegenständlichen.
In den monochromen kleinformatigen Gemälden „Templates“ – Vorlagen – werden diese textilen Schablonen selbst zu reliefartigen Bildträgern, deren Farben mit jenen der größeren Gemälden korrespondieren – mit diesen also in Dialog treten.
Mit großer Virtuosität malt Evelyn Kreinecker die letzte Schicht, die Wasseroberfläche, mit klar gesetzten Pinselstrichen in Ölfarbe. Wenn die Betrachter nahe an das Bild herantreten, stellt sich die Wasseroberfläche als Textur dar, das „Wasserhafte“ entwickelt sich für das wahrnehmende Auge erst durch die Distanz zum Gemälde. Je nach Blickwinkel sehen wir die Oberfläche, die Spiegelung des Wassers – oder aber auch das Darunterliegende. So wie wir in der Wirklichkeit jeweils eine Ebene der vielschichtigen Gestalt des Wassers fokussieren – so wechselt der Blick auch bei der Betrachtung der Gemälde von Evelyn Kreinecker zwischen den Ebenen. In diesem Changieren verhandelt ihre Malerei auf einer Symbolebene die Vielschichtigkeit menschlichen Seins – ein Charakteristikum ihres künstlerischen Schaffens.

Evelyn Kreinecker:
„Oberflächliches und Tiefgründiges, Offensichtliches und Verborgenes, Sichtbares und Unsichtbares, Reales und Imaginäres mischen sich im Phänomen Wasser.“

Während in der deutschen Sprache die Immersion vielgestaltige mediale Formen annehmen kann, konzentriert sich Kreineckers Malerei auf das Wasser, das ein buchstäbliches Eintauchen ermöglicht: vom lateinischen immergo, eintauchen, bis zum englischen immerse, um in den linguae francae der Künstlerin zu sprechen.
Sich ein Bild vom tintengefärbten Wasser aus machen: das können die BesucherInnen in der Interaktion mit dem Aquarium: Immerse, Eintauchen, darf hier wortwörtlich genommen werden. Sie sind eingeladen, die Kamera in das Wasser einzutauchen, einen Bildausschnitt zu wählen, und eine fotografische Aufnahme anzufertigen. Die entstandenen Fotografien werden während der Ausstellungszeit laufend abgezogen und auf dem liegenden Sockel präsentiert.
Im oberen MUFUKU zeigt Evelyn Kreinecker Kunstwerke aus der Serie „Sensus“ – Empfindungen. Die beiden großformatigen Gemälde zeigen Portraits, nicht von Menschen, sondern von Händen, denen Erfahrung, Erlebtes, Schweres und Leichtes eingeschrieben sind. Eine individuelle Landschaft aus Linien, Schattierungen, Furchen, Kuppen und Falten.
Zu sehen sind weiters drei Animationsfilme, fotografierte Zeichenprozesse, die in Stop-Motion-Technik zusammengefügt wurden, nämlich: „Flucht“ aus dem Jahr 2015: 

Evelyn Kreinecker:
„Zeichnend mit Kohle, immer auf demselben Stück Leinwand, habe ich die Bilder in einer Art Chronologie übereinander gelegt. Das fertige Bild wird immer wieder verändert und dabei zerstört, überzeichnet, aufgegeben und gelöscht.“

Die letzte Zeichnung des international erfolgreichen Animationsfilms ist neben der letzten Zeichnung des Films „Wegstücke“ aus dem Jahre 2017 zu sehen. In diesem Film sieht man Menschen, die auf dem Weg sind, ohne dass man zuordnen kann – woher sie kommen und wohin sie unterwegs sind. Diese Momentaufnahmen erzählen Geschichten und hinterlassen Spuren – Kohlespuren, die man auf der letzten Zeichnung noch erahnen kann. Zudem werden Details des Films als Linoldrucke auf Büttenpapier präsentiert. Die großartige Musik in diesem Film stammt von Norbert Trawöger.

Arnold Schönberg:
„Musik spricht die unbewusste Natur dieser und anderer Welten aus.“ 4

Der dritte Animationsfilm von Evelyn Kreinecker „Sensus“ hatte erst vor ca. einem Monat in Linz Premiere und wurde gleich beim „Indie Short Fest – Los Angeles International Film Festival“ gelistet und ist derzeit bei den „Prisma Independent Film Awards“ in Rom unter den besten drei Filmen gereiht. Erneut mit Kohle auf Leinwand gezeichnet ist die klassische Studie einer Hand zu sehen, die in Bewegung kommt und die zum Nachdenken anregen soll, über das, was wir spüren, fühlen, begreifen, tun und gestalten können.

Evelyn Kreinecker zeigt mit ihrer konsequenten künstlerischen Haltung, ihrem vielschichtigen Werk, ob Motivsuche oder Maltechnik und ihrem durchdachten Materialeinsatz, dass ihre Kunstwerke für eine Position stehen, die über den Zeitgeist hinaus Aussagekraft besitzt.
Die Kunstwerke von Evelyn Kreinecker – vielleicht eine Allegorie auf unsere Existenz.

Andreas Tenzer:
„Kunst ist die Befreiung der Schöpfung aus den Fesseln des Faktischen.“ 5

Eröffnungsworte zur Ausstellung – Evelyn Kreinecker – „Immerse“ – MUFUKU Weibern – 11. April 2019 Gerhard Bruckmüller

 

1 Friedrich Wilhelm Nietzsche: Der Wille zur Macht II – Kapitel 5, 822. Quelle: https://gutenberg.spiegel.de/buch/der-wille-zur-macht-ii-6182/5 [15.04.2019].
2 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Edition Suhrkamp 1963, 2.12, S. 16.
3 Jean-François Lyotard, zitiert nach Michael Hauskeller, Was ist Kunst? Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto. C.H. Beck 2005, Kapitel 15.
4 https://www.zitate.eu/author/schoenberg-arnold/zitate/157798 [4.4.2019].
5 https://www.aphorismen.de/zitat/119146 [4.4.2019].