Linie – rund um dieses Thema gruppieren sich die Arbeiten der drei Künstlerinnen Evelyn Kreinecker, Birgit Schweiger, Ulli Stelzer. Eine Linie – auf den ersten Blick etwas, das sich aus der Verbindung mehrerer, mindestens zwei Punkten ergibt, zwischen denen wir uns ein Leben lang entlang hanteln. „Hanteln“ – ein Wort, das ich lange schon nicht mehr gebraucht habe und angenommen habe, es sei tiefster Dialekt meiner Kindheit und nun aus dem Duden erfahre, dass Begriffe wie vorhanteln, entlang hanteln oder weiterhanteln niederdeutschen Ursprungs, durchaus gebräuchlich und etymologisch mit der Hand verbunden sind. Einen Beispielsatz liefert der Duden auch: Kinder hanteln sich an Lianen, die von den Bäumen herabhängen, von einem Zelt zum andern. Da ist sie, sehr bildhaft, jene Linie, von der wir heute erfahren– eine Lianen-Linie von einem Baum, einem Zelt, einem Punkt zum nächsten. Was aber, wenn die Linie abbricht? Die Liane reißt? Das Kind fällt? Die Punkte unscharf werden im Chaos und Nebel einer Pandemie oder eines Klimawandels, Wirtschaftskrisen, prekären Arbeitsverhältnissen – auch und vor allem im Kunst- und Kulturbereich, die ein Hochhanteln, ein Weiterhanteln kaum mehr möglich machen. Eine Unschärfe also, in der sich nur noch schwer eine Perspektive – weder für uns als Individuen noch für uns als Spezies – ausnehmen lässt, kein Punkt mehr oder gar mehrere, an denen wir unsere Linie wie eine Leine hängen könnten.

Wie abhängig wir doch von der Vorstellung dieser Linie zwischen den Punkten sind, eine sehr didaktische Vorstellung einer leitenden, einer verbindenden Linie.
Der poststrukturalistische Philosoph Gilles Deleuze hat sich gemeinsam mit dem Psychoanalytiker Felix Guattari vor 40 Jahren ähnliche Gedanken gemacht, sie befreien die Linie in ihrem Essay Tier-Werden von eben dieser Funktionalität: „Tatsächlich macht der Punkt nicht die Linie, sondern die Linie trägt den deterritorialisierten Punkt mit sich fort, bringt ihn unter ihren äußeren Einfluß; die Linie führt“, heißt es weiter, „nicht von einem Punkt zum anderen, sondern geht zwischen den Punkten in eine andere Richtung, wodurch die Punkte ununterscheidbar werden. (…) Die Linie hat keinen Ursprung, weil sie immer außerhalb des Bildes beginnt, das sie nur in der Mitte festhält, sie hat keine Koordinaten, weil sie sich mit einer Konsistenzebene verbindet, auf der sie freien Lauf hat und die sie erschafft; sie hat keine lokalisierbare Verbindung, weil sie nicht nur ihre darstellende Funktion, sondern jede Funktion verloren hat, irgendeine Form zu umreißen.“ [1]

Diese Formulierung der Befreiung der Linie, die hier auch zu einer Befreiung des Punktes wird, wird zur Kritik an einem Punktsystem, mit dem wir die Welt und unsere Gedanken zu ordnen gewohnt sind, eine Haltung, die auch in den Arbeiten in dieser Ausstellung beobachtet wird. Etwa am Beispiel der Installation Birgit Schweigers im ersten Raum. Die Linie ist hier eine, die ihrer Funktion enthoben wurde und zwischen den Punkten stattfindet, in dem sie als Linie zum Gedanken wird. Die Schnüre laufen zusammen, teilen sich, laufen parallel, verbinden Welten, ergänzen sich, überlappen sich, widersprechen sich und reißen mitunter. Da die Fäden aus Papier sind, halten sie andere Spannungen aus als andere Schnüre. Das Kunstwerk, das Birgit Schweiger immer abhängig von der jeweiligen Raumsituation errichtet, zerstört sich so mitunter noch während des Ausstellungsaufbaus oder aber möglicherweise durch die Berührung mit Besucherinnen oder aber auch gar nicht, je nachdem mit welcher Haltung diesen Gedanken-Fäden der Künstlerin gegenüber die Besucher sich dem Kunstwerk nähern. Fäden können wie Gedanken reißen, abrupt, geben der Spannung nach oder aber leiten sie weiter, öffnen einen Gedankenraum, in den sich Gedanken anderer Menschen gleichsam ein“spinnen“ können.

Eine Annäherung an die Linie, die sich in Evelyn Kreineckers neuen Arbeiten (im Raum nebenan) fortsetzt und neue, andere räumliche Dimensionen annimmt. Auch hier geht es um ein Werden, um bei Deleuze zu bleiben, um das „Werden als Bewegung, durch die die Linie sich vom Punkt befreit“, das Werden als „Anti-Gedächtnis“. Evelyn Kreineckers fluide, wellenartige Gebilde, die sich über die Leinwand bzw. über die Leinwände ziehen, scheinen weder eine Fließrichtung zu haben noch einen Anfang oder ein Ende. Sie sind von Permanenz und Kontinuität geprägt, ohne sich an einem Objekt oder einer Erinnerung festzumachen – oder sich damit aufzuhalten. Sie sind gleichermaßen organisch wie abstrakt und grenzen sich nur durch eine bestimmte Farbgebung voneinander ab. Sie habe hier „mit Farbe modelliert“, bestätigt die Künstlerin im Gespräch, sie wolle keine Wirklichkeit erzeugen oder erfinden, sondern den Strukturen nachgehen und sie herausarbeiten, die sich aus der ersten Schicht auf der Leinwand, dem ersten Arbeitsschritt in Kreineckers Technik ergeben. Die Künstlerin verwebt und verbindet – auch finden sich bruchstückhafte, ornamentartige Gewebe und Abdrücke, die das Organische in den Arbeiten unterstreichen. Eine Mischtechnik, wie Sie sie aus Evelyn Kreineckers Arbeiten kennen. Ebenso präsent und unverkennbar ist die Art des Zusammenfügens, des fließen Lassens.

Das Fluide führt weiter in diesen Raum, wo ein frühes Werk von Kreinecker eine Verbindung zu Ulli Stelzer, der dritten Künstlerin dieser Ausstellung herstellt: hier hat sie eine Fotografie aus der Wasserserie von Ulli Stelzer mit Mitteln der Malerei interpretiert – wodurch das Lineare, das den Stills, Fotografien und Videos von Ulli Stelzer innewohnt, betont wird. Ihre Wasserbilder und Wasservideos zeigen Spiegelungen, Äste oder Holzlatten sind es, die sich im Wasser, im See spiegeln und wabernde Linien erzeugen – der Traunsee, der Weißensee oder auch eine Pfütze in Hamburg sind jene Orte, an denen Stelzer diese rhythmischen, bizarren Bewegungen in den Wasseroberflächen findet. Sie sei „in logische Bewegungsabläufe verliebt“, erzählt Ulli Stelzer, auch, was das Formale betrifft – ihre Wasservideos werden erst zu einem kompletten Werk, wenn Stelzer sie mit Musik verbunden hat, das eine, so die Künstlerin würde ohne das andere nicht funktionieren, das künstlerische Werk entsteht im Miteinander der beiden Medien, besser gesagt, zwischen den beiden Medien. Auch die Serie „connecting the dots“ arbeitet mit Spiegelungen, gänzlich anderer Art allerdings. Die besonderen, bizarren Wesen ergeben sich aus gespiegelten Fotografien gefundener Pflanzenteile, die aus dem Schnee ragen, denen die Künstlerin durch diese symmetrische Gegenüberstellung gleichermaßen etwas Insektenhaftes, auch an Vulven erinnerndes, jedenfalls sehr Sakrales verleiht.

Zum Schluss möchte ich zum räumlichen Anfang dieser Ausstellung kommen – und zu den digitalen Zeichnungen von Birgit Schweiger. Sie entstehen auf einem IPad, erinnern an Scribbles, an schnelle Skizzen oder Zeichnungen, bei näherer Betrachtung erst wird deutlich, was die Künstlerin hier mit diesen Linien entstehen lässt – Ränder, Übergänge, in denen sich Objekte, die an Figuren, Personen erinnern mögen, oft aber auch unbekannte Wesen, organische Gebilde, sich verbinden; ihre Ränder, ihre Linien gehen ineinander über.

Die Auseinandersetzung mit dem Verbindenden, das der Linie also oberflächlich zugeschrieben und abverlangt wird, wird so zu einer Überwindung des Verbindenden, zur Überwindung dessen, was uns etwa aus anthropozentrischer Sicht vorgeblich eint – (wir sind alle Menschen, aber: sind wir alle Menschen?)

Jeder Maler und jeder Musiker, so Deleuze und Guattari, hätte das Ziel „die Linie, die Diagonale zu befreien“, und ein Punktsystem sei „umso interessanter, wenn ein Musiker, Maler, Schriftsteller oder Philosoph dagegen opponiert, wenn er es sogar nur erfindet, um dagegen zu opponieren, wie ein Trampolin, auf dem er herumspringt[2] – auch wenn dieser Gedanke selbst sehr didaktisch ist, es ist ein spielerischer Gedanke, der uns zum Bild des Kindes an der Liane zurückbringt. Die Linie befreien oder gegen ein Punktsystem zu opponieren ist also nicht notwendigerweise ein zerstörerischer Akt, es ist ein spielerischer, ein lustvoller, ein kreativer Akt, der die Bestandteile eines Systems ihrer Funktionen entheben, ohne das System als Ganzes in Frage zu stellen.

Anders ausgedrückt: Wenn die Linie nicht mehr verbinden muss, gibt sie den Blick auf das wahrhaft Verbindende frei.

Danke.

2. September 2020

[1] 1730 – Intensiv-werden, Tier-werden, unwahrnehmbar-werden, in: Tausend Plateaus, Gilles Deleuze / Felix Guattari, S. 406 f., Paris 1980

[2] 1730 – Intensiv-werden, Tier-werden, unwahrnehmbar-werden, in: Tausend Plateaus, Gilles Deleuze / Felix Guattari, S. 403, Paris 1980