Es sind schon einige Wochen vergangen, seit ich die Ausstellung GEDANKENWEGE besucht habe, aber sie wirkt nach und manche Arbeiten der Künstlerinnen beschäftigen mich immer noch. Schon Monate vor der gemeinsamen Präsentation einigten sie sich darauf, sich mit der Linie als formales Gestaltungsmittel und verbindendes Element ihrer sehr unterschiedlichen Arbeiten zu beschäftigen. Einerseits bestimmte dieses Vorhaben die Auswahl der gezeigten Werke, andererseits entstanden auch neue Arbeiten genau durch den Impuls, den dieses Ausstellungsthema gab. Schließlich wurde aus dem Arbeitsthema LINIE der poetische Titel GEDANKENWEGE. Diesen Wegen möchte ich hier ein Stück weit folgen.
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Evelyn Kreinecker hat für diese Ausstellung die Suche nach der Linie ganz wörtlich genommen und eine kraftvolle, malerische Umsetzung dieser Suche gefunden.
Im Gespräch mit der Künstlerin erfahre ich, wie sie ihre meist großformatigen Arbeiten in drei Bildebenen aufbaut. Den Grund bildet eine Schicht aus sehr dünnflüssig angemischter Farbe. Aquarellartig durchscheinend werden in freier Gestik und zügiger Arbeitsweise Farbflächen angelegt, die für den weiteren Gestaltungsprozess erste Weichen stellen. Sowohl Farbklänge und Farbräume, wie auch die Komposition werden schon auf dieser ersten Bildebene rudimentär festgelegt.
Die zweite Ebene zeigt eine fragmentarische Ornamentik, die durch die schablonenartige Verwendung von durchbrochenen Spitzenstoffen und ähnlichen Materialien erzeugt wird. Über den fluiden Farbgrund legen sich nun erste abstrahierte Formen, Assoziationen tauchen auf, ein vorsichtiger Prozess der Bedeutungsfindung setzt ein. Erst jetzt kommt die Zeichenkohle zum Einsatz. Für diese Ausstellung lässt sich Evelyn auf eine völlig neue Formsuche ein. Anstatt, wie bisher, ihre Motive in der sie umgebenden Außenwelt zu suchen, erforscht sie diesmal das begonnene Bild selbst und begibt sich auf die Suche nach Linien, die sie gewissermaßen aus der zuvor angelegten farbigen Ursuppe fischt. Die Linien, die sie entdeckt, verstärkt sie mit kräftigen Kohlestrichen und modelliert sie dann mit Ölfarben sorgfältig heraus. Dabei verbleibt sie konsequent in der zuvor festgelegten Farbigkeit. Sie variiert die Tonwerte in einer Art und Weise, die die dargestellten Formen räumlich definieren und sehr plastisch hervortreten lassen.
Das Ergebnis dieses Malprozesses sind Liniengebilde, die auf mich sehr stofflich, gewichtig und lebendig wirken. Im zentralen gemeinsam bespielten Raum beteiligt sich Evelyn mit zwei Arbeiten von sehr zurückhaltender Farbigkeit am Dialog der Bilder. Lediglich der sandige Ockerton auf dem Grund ihres großen Gemäldes „Ausgelassen“ bringt etwas Farbe in das ansonsten streng schwarz-weiße Gestaltungskonzept dieses Raumes.
Die Ornamentik der zweiten Bildebene erinnert hier an eine Tapete, einen Teppich, vielleicht auch einen filigranen Vorhang. Auf jeden Fall entsteht in mir die Vorstellung von einem Innenraum. Das Bild zeigt eine Art Knoten, den ineinander verdrehte Materialien formen. Die angedeutete Kreuzform lässt die Gedanken aber auch schnell zum menschlichen Körper wandern. Hals, Schultern, Hüfte lassen sich leicht finden, das Gehirn ergänzt, was die Bildkanten abschneiden. Aber wie wäre in diesem Fall die lebhaft dargestellte Textur zu lesen? Ein in dicht geraffte Stoffe gehüllter Körper, eine Mumie möglicherweise oder ein Leichnam im Totentuch? Oder gar nicht verhüllt, sondern gehäutet: bloßgelegte Muskelfasern? Oder aber doch eher die pflanzliche Interpretation, Lianen, Triebe, Blattwerk oder Kapillargefäße?
Die Linie steht hier nicht für sich alleine. Sie ist von der Form in den Dienst genommen, ihre Funktion ist die Begrenzung der Fläche. Trotz der konzentrierten Beschäftigung mit dem Darstellungsmittel Linie bleibt die Künstlerin ihrem malerischen Zugang treu. Noch deutlicher wird das bei den Arbeiten im nächsten Raum.
Hier lässt Evelyn der satten, leuchtenden, niemals aber grellen Farbigkeit ihrer Bilder wieder freien Lauf. Regenbogenartige Farbverläufe, wie sie häufig in ihren Werken zu finden sind, breiten sich hier über mehrteilige Arbeiten aus.
Die Farbflächen und Linien greifen über die Bildkanten hinaus, eignen sich auch die schmalen Seitenflächen der Leinwände an. Das Bild wird zum bemalten Objekt, die Objekte verbinden sich je nach Perspektive fast nahtlos zu neuen Bildern. Die Farbe beeinflusst nun selbstbewusst und bestimmt die Wahrnehmung. Und in diesen Bildern scheint sich auch die Linie nach und nach von ihrer untergeordneten Rolle zu befreien, die herausgearbeiteten Formen werden leichter, teilweise so transparent, dass da und dort eine Linie für kurze Momente frei im Bildraum schweben und sich von der Fläche lösen kann.